Es pfeift, rattert, zischt oder brummt. Ohrgeräusche kennt fast jeder. Sie kommen meist aus dem Nichts und verschwinden ebenso ansatzlos wieder. Bei manchen bleiben sie über Stunden, bei anderen mehrere Tage, Wochen oder gar Monate. Dauert der Tinnitus (von lateinisch tinnire für klingeln, klimpern, schellen) länger als drei Monate, dann sprechen die Mediziner von einem chronischen Tinnitus.
Rund drei Millionen Menschen sollen Studien zufolge in Deutschland darunter leiden. Der kürzer dauernde akute Tinnitus hängt meist mit einer Ohrerkrankung zusammen. Ist eine Entzündung im Ohr oder eine Erkältung abgeklungen, klingt auch das Ohrgeräusch ab. Besucher von Konzerten, der klassische Fall von Tinnitus nach Lärmeinwirkung, wissen, dass die Geräusche nach spätestens zwei Tagen wieder völlig verschwunden sind.
„Deutlich schwieriger ist die Behandlung von chronischem Tinnitus, vor allem wenn der Auslöser unklar ist. Tinnitus ist häufig ein Symptom unterschiedlicher Störungen", so Prof. Dr. Karl Götte, Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde in Landshut und Belegarzt im Klinikum Landshut. Mittlerweile sind rund 100 Erkrankungen bekannt, die zu Tinnitus führen können. Neben „einfachen Ursachen" wie Ohrschmalzpropfen können auch ernste Erkrankungen wie Herzrhythmusstörungen, zu hoher oder zu niedriger Blutdruck, Probleme an der Halswirbelsäule oder gar Hirntumore Ursache für Tinnitus sein. „Bei chronischem Tinnitus können aber auch psychische Ursachen eine Rolle spielen", betont Prof. Götte. Manche Betroffene hatten zuvor unter Depressionen oder Angststörungen gelitten. Kommen dann plötzlich Ohrgeräusche hinzu, die sich die Betroffenen nicht erklären können, führt dies zu Verunsicherung. Dadurch kann der Tinnitus Depressionen und Angststörungen verstärken und umgekehrt.
Jeder Tinnitus ist anders. Rund die Hälfte der Betroffenen leidet unter einer Überempfindlichkeit bezüglich Schall. Andere wiederum leiden unter Stille, weil das Ohrgeräusch dann mehr in den Vordergrund tritt. Während die einen also empfindlich gegen Geräusche sind, empfinden andere Außengeräusche als angenehm, weil sie die inneren Töne zurückdrängen. „Am Anfang einer jeden Behandlung steht deshalb ein ausführliches Patientengespräch, um möglichst viel über den Tinnitus und mögliche Ursachen zu erfahren", so Prof. Dr. Karl Götte. Mit dem Ohrmikroskop untersucht der Arzt Gehörgang und Trommelfell, dann den Nasen- und Rachenraum. Außerdem prüft er das Hörvermögen. Mit hochempfindlichen Mikrofonen lassen sich auch sogenannte otoakustische Emissionen messen. Diese geben Auskunft über die Funktion des Innenohrs. Durch die Hirnstammaudiometrie kann der HNO-Arzt die am Hörvorgang beteiligten Nerven überprüfen, um beispielsweise einen Tumor am Gehörnerv auszuschließen. Bereits kleinste Störungen der rund 14.000 Hörsinneszellen können das komplexe Zusammenspiel zwischen Ohr und Gehirn durcheinander bringen. Durch diese Beeinträchtigungen können im Gehirn Geräusche entstehen, für die es keine äußere Quelle gibt. Eine mögliche zukünftige medikamentöse Therapie baut deshalb auf ein chemisch nachgebautes körpereigenes Hormon, das den Zellstoffwechsel der Hörsinneszellen und die elektrische Leitfähigkeit der Hörbahnen verbessern soll.
„Patienten mit unklarer Ursache müssen wir helfen, trotz Geräusch im Ohr wieder zu mehr Lebensqualität zurückzufinden", bilanziert Prof. Dr. Karl Götte. Die Langzeittherapie nennt sich Tinnitus-Retraining-Therapie. Dabei versuchen die Betroffenen, die Filterfunktionen des Gehirns zu beeinflussen. Ziel ist es, sich selbst vom Ohrgeräusch abzulenken. Entspannungstechniken setzen beim Faktor Stress an. Dauerstress kann Tinnitus hervorrufen oder verstärken. Sich zu entspannen hilft, das Geräusch im Ohr wieder loszuwerden oder zumindest zu reduzieren. Ein mögliches Verfahren ist das Biofeedback. Mit einem Biofeedback-Gerät lassen sich Verspannungen aufzeigen, die sich einstellen, wenn das Ohrgeräusch entsteht. Betroffene können lernen, diese Verspannung zu lösen, weil sie auf dem Monitor sehen, wo sie ansetzen müssen. Die Wirksamkeit dieses Verfahrens ist bisher wissenschaftlich nicht ausreichend belegt.
Andere wiederum nutzen Rauschgeräte. Der sogenannte Tinnitus-Masker erzeugt ein Geräusch, das den Tinnitus auslöscht, also neutralisieren soll. Der Tinnitus-Noiser hingegen erzeugt ein Hintergrundrauschen, das vom Tinnitus ablenken soll. Erfolge verspricht auch eine Musiktherapie, bei der derselbe Ton erzeugt wird, wie ihn der Betroffene im Ohr wahrnimmt. Dieser ähnliche Ton regt die Hörnerven und das Hörzentrum im Gehirn an mit der Folge, dass sich nach der Therapie die Symptome bessern können. Für einige Betroffene ist auch die hyperbare Sauerstofftherapie geeignet. Dabei wird rund zwei Wochen lang täglich eine Druckkammer genutzt, die den Wasserdruck von 14 bis 18 Meter Tiefe erzeugt, während der Patient reinen Sauerstoff einatmet. All diesen Therapieansätzen ist gemeinsam, dass deren Wirksamkeit unter wissenschaftlicher Betrachtung weiterhin umstritten ist. Welche Therapie die richtige ist, entscheidet der HNO-Arzt in enger Abstimmung mit dem Betroffenen. Generell gilt, wer mehrere Tage hinweg Ohrgeräusche hört, sollte auf jeden Fall einen HNO-Arzt aufsuchen.
Im Bild oben: Prof. Dr. Karl Götte, Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und Belegarzt am Klinikum Landshut