Landshut - pm (14.04.2024) Pfarrer Rainer Oechslen schreibt unserer Rundschau: Wenn Sie meinen Predigt-Text veröffentlichen wollen – bitte gerne. Ich stehe noch auf dem klassischen reformatorischen Standpunkt, dass Predigten publika doctrina sind, öffentliche Lehre – mag man in manchen Gottesdiensten heute auch den Eindruck haben, sie seien geschlossene Veranstaltungen.
Wenn aber etwas sowieso öffentlich ist, warum sollte man es dann nicht einem weiteren Kreis zugänglich machen?
Gut wäre es, wenn Sie in diesem Fall meinen Namen und die folgende Mail-Adresse mit angegeben würden: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Ihr Dr. Rainer Oechslen, Pfarrer
Sudetenstraße 4 - 91578 Leutershausen
Telefon 09823/8346
Heute lese ich eine selten gepredigte Ostergeschichte aus dem Buch der Richter, Kapitel 16: Simson ging nach Gaza und sah dort eine Hure und ging zu ihr. Da wurde den Leuten von Gaza gesagt: Simson ist hierhergekommen! Und sie umstellten ihn und lauerten ihm die ganze Nacht auf am Stadttor. Die ganze Nacht verhielten sie sich still und dachten: Morgen, wenn‘s licht wird, wollen wir ihn umbringen. Simson aber lag bis Mitternacht. Da stand er auf um Mitternacht und ergriff beide Torflügel am Stadttor samt den beiden Pfosten, hob sie heraus mit dem Riegel und legte sie auf seine Schultern und trug sie hinauf auf die Höhe des Berges vor Hebron. - Richter 16,1-3
Liebe Gemeinde,
Simson „stand auf um Mitternacht und ergriff beide Torflügel am Stadttor samt den beiden Pfosten, hob sie heraus mit dem Riegel und legte sie auf seine Schultern und trug sie hinauf auf die Höhe des Berges vor Hebron“. Schloss und Riegel können Simson nicht halten. Er bricht durch, durch Tor und Tür hinaus in die Freiheit.
Auf den Glasfenstern der Klosterkirche Alpirsbach im Schwarzwald steigt Simson im weiten blauen Mantel einen Berg hinauf, zwei schwere Türflügel auf den Schultern. Neben Simson steht im nächsten Fenster der auferstandene Christus. Die Glasfenster stammen aus dem 12. Jahrhundert. Eine spätere Handschrift – ihr Titel: „Spiegel der menschlichen Erlösung“ – zeigt den komischen Aspekt der Geschichte. Da schreitet Simson mit den Türflügeln davon, aus dem offenen Tor aber schimpfen ihm die Männer von Gaza hinterher und schütteln ihre Fäuste. Auch hier steht der Auferstandene direkt neben Simson.
Darf man das so darstellen? Darf man den Kraftprotz, der gerade aus dem Bett eines Mädchens kommt – über die schlimme Bezeichnung „Hure“ sprechen wir noch –, darf man diesen Mann, der dann einfach die Stadttore von Gaza aus den Angeln hebt, neben den auferstandenen Christus stellen?
Unsere modernen Kenner des Alten Testaments tun sich schwer mit Simson – oder Samson, wie er in katholischen Bibelausgaben heißt. Ein Professor in Bonn fühlte sich durch Simson „an Till Eulenspiegels lustige Streiche“ erinnert und urteilt, diese Geschichten seien „fürwahr kein christlicher Predigttext“. Und der verehrte Gerhard von Rad, dessen Auslegung des Alten Testaments ich fast immer folge, der Nürnberger auf dem Lehrstuhl in Heidelberg, schreibt: „Von diesem Simson ist in einer Weise erzählt, dass dieser mit Kräften des Geistes wie des Körpers wunderbar Begabte dem Leser menschlich nahetreten muss, sonderlich da, wo er schließlich den Ränken derer erliegt, die zwar nicht so stark und witzig, dafür aber hinterhältiger waren … Aber auch seine Gotteskraft verzettelt sich immer mehr in wirkungslosem Schabernack, und Simson geht in dem großen Konflikt zwischen Eros und Charisma schließlich unter.“ Also: Simson hat für Gerhard von Rad den Zwiespalt zwischen Sexualität und geistlicher Begabung nicht bewältigt.
Das alles glaube ich nicht.
Aber vielleicht muss ich erst einmal ein wenig von Simson erzählen. Am Anfang ist da ein Mann mit Namen Manoach, der ist verheiratet mit einer Frau, deren Namen wir nicht erfahren – die aber zur Hauptperson wird. Manoachs Frau ist unfruchtbar. Doch dabei bleibt es nicht. Die Frau gehört in die Reihe von Sarah, Rebekka und Rahel, die als unfruchtbar galten und doch Mutter wurden. Der Engel des HERRN kommt zu ihr und sagt: „Du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem kein Schermesser aufs Haupt kommen soll. Denn der Knabe wird ein Geweihter Gottes sein von Mutterleibe an; und er wird anfangen, Israel zu erretten aus der Hand der Philister.“ (13,5) Damit ist dann auch gleich der politische Horizont deutlich: In dieser Zeit drängen die Philister von den Küstenstädten, von Gaza, Akron und Gat herauf ins Bergland von Palästina. Die politisch kaum organisierten Israeliten sind unterlegen und werden zu einer Art Knechtsvolk. Das Kind aber, das der Engel angekündigt hat, wird die Israeliten „erretten“. Das heißt in diesem Fall nur: Für eine gewisse Zeit wird er ihnen eine Atempause verschaffen.
Das Kind wird geboren. Seine Eltern nennen es „Schimschon“ – „kleine Sonne“ oder „Sonnenkind“. Aus Rücksicht auf Leute wie mich mit einer kleinen Sch-Schwäche wird daraus Simson.
Das Sonnenkind wächst heran, bei der ersten Gelegenheit verliebt es sich – in eine Philisterin. Die Reaktion der Eltern lässt sich denken: „Ist denn nun keine Frau unter den Töchtern deiner Brüder und in deinem ganzen Volk, dass du hingehst und willst eine Frau nehmen von den Philistern, die unbeschnitten sind?“ (14,3) Manchmal denkt man, im Lauf der Weltgeschichte ändert sich nicht viel: Wenn heute ein „Geweihter Gottes“, ein Tora-Student etwa aus Jerusalem, eine Frau aus Gaza heiraten wollte, die Reaktion wäre nicht anders, vermutlich noch härter. „Wo die Liebe hinfällt …“ Das sagt man so dahin. Aber tatsächlich ist die „Liebe stark wie der Tod“ (Hoheslied 8,6) und macht manchmal ähnlich viel Kummer. Man könnte grinsen, wenn sich ein Enkel Benjamin Netanjahus in eine Palästinenserin verlieben würde. Aber das Grinsen vergeht einem, wenn man daran denkt, was dieses Paar aushalten müsste.
Schon bei der Hochzeit gibt es Ärger, nicht mit der Braut zuerst, sondern mit ihrer Verwandtschaft und mit ihren Freunden, schließlich auch mit der Braut. Im Zorn läuft Simson davon. Als er nach ein paar Tagen wiederkommt, ist seine Frau mit einem anderen verheiratet, mit seinem „Brautführer“ – wir würden vielleicht sagen: mit seinem Trauzeugen.
Ihr Vater sagt ein wenig betreten: „Ich meinte wirklich, du wärest ihr gram, und habe sie deinem Gesellen gegeben. Sie hat aber eine jüngere Schwester, die ist schöner als sie; die nimm statt ihrer.“ (15,2) Dieses Angebot ist einfach zynisch. Simson liebt, er will nicht irgendeine, er will seine Frau. Er gerät nun ernsthaft in Zorn, vernichtet die Weizenernte der Philister, wird beinahe gefangen genommen, entrinnt, verdurstet fast. Ich kann beim besten Willen nicht alles erzählen.
Schließlich – nach Jahren vermutlich, Jahren voll Unrast, Jahren ohne Frau und Familie – geht er nach Gaza. Es heißt: Er „sah dort eine Hure und ging zu ihr“. Wir verbinden diesen Ausdruck mit Geld, denken an Sexualität gegen Bezahlung, an die Erniedrigung, die damit verbunden ist – für beide Beteiligte. Aber von Geld ist hier nicht die Rede. Es gibt Milieus in Ost und West, in denen auch heute nur Männern eine selbstbestimmte Sexualität zugestanden wird. Die Frauen sollen selbst keine sexuellen Wünsche haben. Und es gibt in diesen Milieus in Ost und West Frauen, die diese Rolle nicht annehmen, die selbst über ihre Liebe entscheiden, die lieben, ohne sich dauerhaft zu binden. So eine Frau stelle ich mir vor.
Für eine Nacht tut Simson sich mit ihr zusammen. Das ist vielleicht nicht besonders moralisch, aber es gibt Schlimmeres in dieser Welt. Simsons Geistbegabung schadet es jedenfalls nicht. Das hören wir sogleich.
Denn man hat Simson erkannt. Die Männer von Gaza sind alarmiert. Diesmal wird ihnen Simson nicht entwischen. Für sie ist er ein Terrorist. Sie umstellen das Haus und lauern ihm auf, aber sie warten ab. Simson kann ihnen nicht mehr entwischen. „Morgen, wenn’s licht wird, wollen wir ihn umbringen.“, sagen sie. Doch Simson steht auf um Mitternacht, geht durch die dunkle Stadt zum Tor. Das ist verriegelt und verschlossen. Er aber hebt die beiden Torflügel aus den Angeln, den Riegel nimmt er gleich mit und die seitlichen Pfosten auch, lädt alles auf seine Schultern und geht davon. Als der Morgen graut, steht er auf der Höhe des Berges und schaut hinunter auf die Stadt, die ihn einschließen und töten wollte. Das „Sonnenkind“ steht im Licht des Sonnenaufgangs.
Eine Befreiungsgeschichte ist das. Versteht ihr jetzt, warum man das Bild Simsons mit den Torflügeln und das Bild des auferstandenen Christus nebeneinandergestellt hat? Beide waren eingeschlossen, eingeschlossen in einer dunklen Stadt, eingeschlossen im Grab. Beide sind ausgebrochen, sind ihren Feinden entkommen. Das Tor von Gaza hat den einen, die Pforten der Hölle haben den andern nicht festgehalten.
Für die Christen des Mittelalters war Simson ein Vorbild dessen, was in Christus geschehen ist. Der Zorn Simsons über die Unterdrückung durch die Philister gleicht dem Zorn Jesu über die Händler im Tempel. Wenn Simson vor Durst ganz matt ist, dann denken die Christen daran, dass Jesus am Kreuz gesagt hat: „Mich dürstet!“ (Joh 19,28) Dass Simson mit der Frau in Gaza im Bett liegt, das ist nicht peinlich. Auch Jesus hat eine Braut, die er liebt, das ist die Kirche. In durchaus erotischen Worten wird diese Liebe besungen. Auch Martin Luther spricht noch davon, dass Christus mit der Kirche im Bett liegt.
Das Wichtigste aber, die tiefste Übereinstimmung, das ist die Befreiung, der Ausbruch aus dem Schatten des Todes.
Wir haben inzwischen gelernt, das Alte Testament noch anders zu lesen als die Generationen vor uns – nicht nur aus Voraussage auf Christus. Aber es wäre schlimm, wenn uns Simson nichts mehr zu sagen hätte, wenn für uns der Zorn über Unterdrückung keine Rolle mehr spielte, wenn es für uns keine Verbindung von Eros und geistlicher Begabung gäbe, keinen Ausbruch aus unserer Gefangenschaft, keine Befreiung von den Mächten des Todes.
Ein großer Prediger unserer Tage war Jörg Zink. Vor acht Jahren ist er gestorben. Zink hat die Kirche von Alpirsbach immer wieder besucht, die Bilder Simsons und des auferstandenen Christus betrachtet. Jörg Zink gebe ich jetzt das Wort:
„Der hier für sein Volk in die feindliche Stadt hinabsteigt, den der Feind gefangen und überwunden glaubt, der um Mitternacht aufsteht, das Tor aufbricht und auf die Berge trägt, bis er im Morgengrauen siegreich über der Dunkelheit steht, ist für uns nicht Simson, sondern Christus.
Die Situation ist uns vertraut: Wir entdecken, dass es Ziele gibt, die wir in diesem Leben nicht mehr erreichen, dass Chancen verpasst sind und Schuld nicht mehr beseitigt werden kann.
Der Mauerring schließt sich, und wir können nur noch, durch eine lange Nacht gleichsam, abwarten, dass die Männer von Gaza ins Zimmer treten und mit ihnen der Tod. Da erzählt nun die Ostergeschichte, es sei einer auferstanden, den der Tod schon umschlossen hatte. Er habe aber nicht nur ein Tor geöffnet und es wieder hinter sich geschlossen, er habe vielmehr das ganze Tor davongetragen. Christus, so sagt Paulus, ist der Erstling unter denen, die schlafen. Wir sollen hinter ihm hergehen aus dem schlafenden Häusermeer, mit ihm durch die Nacht auf den Berg steigen und, wenn die Sonne aufgeht, dort sein, wo man in die Freiheit hinübersieht.“
Dann betet Zink:
„Ich danke dir, Herr, dass ich frei bin.
Du warst gefangen und bist frei.
Nun schaffst du mich neu zu einem freien Menschen.
Ich bin nicht mehr, was ich von mir selbst weiß,
sondern was du aus mir gemacht hast.
Du forderst keine Leistung.
Du verurteilst mich nicht wegen meines Versagens.
Ich bin dein.
Ich bin auf deinen Namen getauft.
Ich bin und bleibe dein Kind,
neu geschaffen durch deinen Geist,
den schöpferischen.
Ich frage nicht mehr,
ob ich es verdiene, zu leben,
denn ich lebe durch dich.
Ich danke dir, Herr,
jetzt und in Ewigkeit.“
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen
und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.